Mittwoch, 1. September 2021

Tag 38: Sauerland und die Wilde 13

Willingen Schmallenberg/Hoher Knochen
(30,1 km - 940 Hm auf - 920 Hm ab)

Obschon heute die Königsetappe des mittleren E1-Abschnitts durch Deutschland vor mir liegt (mehr als 30 km, 950 Auf- und mehr als 700 Abstiegsmeter werden abends am Tacho stehen) und es Frühstück erst ab ACHT Uhr gibt, lasse ich mir für dieses Buffet richtig Zeit, ist es doch das erste richtig opulente Frühstücksbuffet seit ich hier unterwegs bin.

Und für den Notfall habe ich ja Stirnlampe im Rucksack und das Angebot eines Telefon-Taxi-Jokers bis in den Bereich Frankfurt von der örtlichen Trail-Angel-Agentur.

Apropos: Mein Vater hatte ja angeboten, mich aus Frankfurt abzuholen, somit könnte ich quasi mit einem doppelt gebrochenen Verkehr von hier im Vorlauf nach Frankfurt, Hauptlauf nach Coburg und Nachlauf nach Herzogenaurach. Aber welch nutzloses Gedankenspiel, bleiben wir mal lieber beim LaufEN :-)

Also Schirm auf, Matz ab und ab in den Regen.

Bereits kurz hinter dem Quartier am Waldrand tun sich aber erste potentielle Probleme auf: Ein rot-weißes Trasierband hängt quer über dem Weg bergauf. Irgendwas steht da auch in schwarzer Schrift drauf. Aber LEIDER habe ich meine Brille im Rucksack, LEIDER ist das Band total verdreht und LEIDER ist es so naß, daß ich es gar nicht anfassen kann, um festzustellen, ob da möglicherweise wegen Forstarbeiten eine Sperrung vorliegt. Nun, ein Schild gibt es nicht und ob der Nässe flutscht das Verschieben des Bandes auf der einen Seite auch richtig zum Drübersteigen.

Nun also bergan, denn man kann sich von diesen Wanderführer-Autoren ja nicht alles sagen/bieten lassen: Von wegen Kahler Asten (Sauerlands/NRWs Dritthöchster) erstes Gipfelkreuz seit der dänischen Grenze.

Mir haben die örtlichen Influencer ja Flöhe ins Ohr gezwitschert, daß man vorher mal noch schnell den Langenberg (Dominanz 116 km: Großer Feldberg/Taunus) sollte: "Sauerlands/NRWs Höchster" paßt auch viel besser in die Reihe beispielsweise mit "Zillertals Höchstem" (aber da hat die Wien-Kärnten-Fraktion ja auch noch eine Lücke) oder dem "Weißen Berg", wie es hier heißt, am Ende des "Finschteren Tals", wie Weltraumkundige Primaten aus Wien sagen würden.

Bereits zu Beginn des Steilanstiegs trete ich zwar so richtig fett nicht in Fett- aber evtl. waren es Kakao-Näpfchen:


Die Forstmaschinen haben hier im hessischen Teil des Anstiegs tiefe und großflächige Spuren hinterlassen.
Aber gen Grenze wird der Weg besser und bisher habe ich keine Menschenseele getroffen.

Kurz vor dem Gipfel (10 Meter davor geht es über Grenze) kommen mir dann zwei Wanderer entgegen: Sie waren auch in Willingen gestartet (und sind auch Richtung Winterberg unterwegs), aber die Route des Rothaarsteigs nimmt wohl einen anderen Weg auf den Berg. Ich werde bereits vorgewarnt: Der Normalweg auf der anderen Seite bergab ist wegen Forstarbeiten (wirklich) gesperrt und es gilt, sich quasi über den Südgrat bis in eine Senke durchzuschlagen und von dort dann seitwärts wieder in die klassische Route aufsteigend zu queren. 


Aber zuerst noch weiter bis zum Gipfel, wo mir gleich die nächsten beiden Rothaarsteig-Begeher begegnen.

DAS ist also das erste (und NRWs höchstgelegenes) Gipfelkreuz seit Flensburg: 


Unweit steht gerade ein Auto des Landesforstbetriebs und ein Mitarbeiter ist bei der Arbeit. Ein kaum zu ertragendes Bild, also erstmal schnell vorbei geschaut, den Herrn in ein Gespräch verwickelt und von der Arbeit abgehalten.

Mal davon abgesehen, daß er von meinem Schirm total begeistert ist ("... daß es sowas gibt. Brauche ich auch...") und ich ihm bestimmt gleich 1-3 hätte verkaufen können - so ich sie denn dabei gehabt hätte (ob ich mir im Vorfeld eine Lizenz für eine Art mobile Handelsvertretung von Euroschirm hätte besorgen sollen ? - also das Interesse unterwegs ist wirklich stark und dabei habe ich noch nichtmal die weinrote (oder wenigstens die schwarze) Variante bekommen, die deutlich besser zu meinem Rucksack und auffälliger im Kontrast zur Landschaft gepaßt hätte...).

Jedenfalls bin ich nun dermaßen gut über die provisorische Umleitung für die Wanderer informiert, die die beiden Forstmitarbeiter just nach uns in eine ordentliche umzuwandeln gedenken, daß ich den beiden anderen Wanderern auf Anfrage Auskunft zum weiteren Vorgehen geben kann.

Also erstmal wieder ein Stück meines Weges zurück und dann immer den Rothaar-Steig-Trasier-Band-Schleifchen in den Astwipfeln folgen:


Super gemacht !

Hätten Hänsel & Gretel derartig robustes und ungemein praktisches Material schon zur Verfügung gehabt, hätten sie sich die nächsten 1.000 Jahre im Wald nicht verirrt: Der ist hier nämlich so dicht, daß UV-Zersetzung und das Entstehen von Mikro-Plastik praktisch kaum eine Chance hat.

Im Abstieg kommt mir dann das nächste Duo entgegen, die einen dritten Weg von Willingen (aus meiner Sicht: einen unpraktisch eigen-willi(n)gen) gen Gipfel eingeschlagen hatten. Einer von beiden ist barfuß unterwegs. Immerhin hat er sonst Klamotten an, nicht wie in der Heide an Tag 16. Er hat sogar Schuhe am Rucksack hängen. Allerdings BARFUSSschuhe.


Die beiden haben allerdings nicht den Biß erst noch zum Gipfel zu gehen, sondern drehen unmittelbar wieder um, als ich ihnen von Sackgasse und den rot-weiß flatterhaften Konsequenzen erzähle.

Im Abstieg und kurz bevor ich wieder auf der E1-Normalroute bin, sammle ich dann sogar noch ein zweites Gipfelkreuz ein, um den Nachbarn im Südosten mal zu zeigen, was eine Harke ist: 


Ja, diese Nachbarn: Seit Tagen zweifle ich wahlweise an ihnen oder an mir und zerbreche mir den Kopf über die heutige Etappe.
Man muß dazu wissen: Sowohl die Dame aus Wien, als auch der Herr in Kärnten sind von Berufs-Wegen eigentlich Informatiker und BESTIMMT sind sie ob ihres Titels (den sie im Unterschied zu mir bzw. zu mir gleichgestellten Deutschen haben) und ihrer Zensuren mir in dieser Hinsicht gerade theoretisch WEIT überlegen, ABER ich kämpfe einfach mit dem Theorem im Abstrakt von Etappe 10 des E1-Wanderführers Deutschland Süd im Rother-Verlag:

1. Der Langenberg ist mit 843,9 m der höchste Gipfel Nordrhein-Westfalens.
2. Der Hegekopf liegt mit 842,9 m auf Platz zwei.
3. Der Kahle Asten ist mit 841,9 m der Dritte im Bunde.
4. Höhen werden in NRW (u.a. in Landkarten) sehr genau, nämlich mit einer Nachkommastelle, angegeben, da sie sehr dicht beieinander liegen, um klare Unterscheidung zu haben.  
5. "Unser Mitleid gilt dem Hegekopf, der nach [einem] jahrmillionenlangen Rennen mit nur 30 cm Rückstand [..] in die Geografiebücher einging."

*mmmmmh* 

Ich habe ja hilflos die wildesten Theorien (ich muß zugeben: Theoretische Informatik habe ich erst im letzten Versuch bewältigt) aufgestellt - am Ende unter Hinzuziehung der Riemannschen Vermutung, wo unsereins (und der katholische Feind aus dem Osten: KC) "Riemann" eigentlich nur als örtlichen Buch-Dealer und nette Amazon-Alternative kennt.

Aber auch in (höherer) Mathematik habe ich mich an der Universität einzig und alleine (kein Scherz !) mit Zufall durchgemogelt (ja, in Stochastik war ich nie so ganz schlecht, auch ein blindes Hund findet (statistisch gesehen) glücklicherweise immer mal ein(e) Korn), so daß mir jetzt vielleicht mal die mathematisch Begabteren unter den LeserInnen auf die Sprünge helfen können, denn kann eine derartig hochkarätige Autorenschaft und einer derart renommierter BERGverlag samt seines Lektorats so irren ?
 
Neben der 30cm-1m-Relation kommt einem ja schließlich gleich noch die im Nebenssatz mitgelieferte Erklärung mit den Nachkommastellen komisch vor, denn schließlich führten alle mir bekannten (üblichen) Rundungsalgorithmen auf ganze Zahlen (kaufmännisch, Abschneiden, Aufrunden) mit den gegebenen Werten weiterhin zu ein-eindeutigem und gleichbleibendem Ranking in diesem Fall.

Das kommt mir irgendwie spanisch vor. Da ist doch was faul im Staate Dänemark - auch wenn der nun schon ca. 900 km Wegstrecke hinter mir liegt.

Wer nun meint, daß ICH spinne:


Von Hügel zu Hügel hangle ich mich derweil weiter.


Die folgende Konstruktion gibt mir dann weniger theoretische Rätsel auf (kleine Bären würden da - theoretisch - perfekt durchpassen) als vielmehr praktische: Für welche Tiere dieser "Vorhang" aus massivem Holz im Wildtierzaun wohl gut ist ?  Ideen ?


Etwas später schlägt das Imperium dann zurück: MITTEN im Wald weht die österreichische Fahne.

Das ist vermutlich der nördlichste Außenposten unserer Nachbarn:  


Ich schaue mich vorsichtig um, nicht daß die Österreicher sich nicht nur bei (Berg-)Höhen etwas vertan haben, sondern auch bei den Koordinaten (also Längen und Breiten) für aktuelle Rettungsmissionen und hier (statt in Kabul) gerade eine Kurz'sche Art Cobra-übernehmen-sie abläuft.
Da ich keine schwerbewaffneten Spezialkräfte sichten kann, schleiche ich mich leise an und klopfe an das Häuschen, vielleicht wäre ja kulinarisch etwas für zwischendurch zu haben - kleine Stärkung käme mir gerade recht:

Knusper, knusper, Knäuschen, gibt's an Kaiserschmarrn* in diesem Häuschen ?

*Stille*

Aber nein, also irre ich weiter zielstrebig durch den Wald bis es (von unten) sumpfig und naß wird: Aber ein Bohlensteg führt hier prima durch.


Nur zwei Mail knarzt und knirscht es wenig vertrauenserweckend unter meinen Stiefeln: Na, jetzt habe ich aktuell schon nur 11 kg an Rucksack, nur noch einen halben Liter Wasser an Bord und mein Körpergewicht hatte bereits vor der Tour erheblich an Masse verloren, da wird doch jetzt nicht der klügere nachgeben ? 

Die Sache ging gut (und ohne Einbruch) für mich aus, also weiter bergan, dem bekanntesten Sauerländer entgegen...

Zwischendurch dann noch eine Reminiszenz in Form eines Gedenksteins an U2. Wer jetzt an Bono und Musik denkt, liegt hier allerdings falsch: Lockheed U-2-Aufklärungsflugzeug (Eigentümer: CIA - weniger euphemistisch also eher "Spionageflugzeug") war hier am Fronleichnamstag 1975 (immerhin nicht so makaber wie wenige Donnerstage zuvor Himmelfahrt gewesen wäre) abgestürzt.
Nichtsdestowenigertrotz war es für den Piloten kein Himmelfahrtskommando im wörtlichen Sinne: Im Gegensatz zu den ersten Modellen hatte er nämlich einen Schleudersitz und konnte sich retten.


Auf dem Gipfel des Kahlen Asten ist dann einiges los, nur Hotel/Gastromie/Kioske sind komplett verrammelt.

Zwischenresultat:
1.-höchsten des Sauerlands/NRWs bestiegen
3.-höchsten des Sauerlands/NRWs bestiegen
----------------------
Unterm Strich: Eine wilde Nummer.


Mein Tagesziel ist deswegen auch noch ca. 4 km entfernt.

Neben den Touristen gibt es hier oben auch noch andere Bergbewohner, die es gerade in der Erklärung des Unterschieds von Ziegen und Schafen für Kinder es Erwachsenen sehr einfach machen:

0. Schafe und Ziegen sind vierbeinige Säugetiere, die Hüfthöhe erreichen. 
1. Ziegen sind weiße Tiere mit BRAUNEM Kopf.
2. Schafe sind weiße Tiere mit SCHWARZEM Kopf.
3. Ziegen sind Tiere, die Hörner im Luftkampf krachend aneinanderschlagen oder auf dem Boden der Tatsachen sich bei Schädel-an-Schädel-Drücken verausgaben.
4. Kleine Baby-Schafe schauen, wo große Ziegen mit starken Hörnern die vermeintlich besten Kräuter naschen, drängeln dann mit dem ganzen Körper sowie den kleinen Stupsnäschen erfolgreich genau dorthin und die Ziegen lassen es mit sich machen.


Im Abstieg vom Kahlen Asten passiere ich den 50-Kilometer-Stein des Rothaarsteigs, der allerdings immer nur partiell identisch zur E1-Route ist.


Das mit den Wegweisern ist hier so eine Sache, dazu später mal mehr...


Die letzten Meter zum Hohen Knochen geht es am Hang entlang. Da standen wohl früher mal Fichten...


Dann komme ich am Hotel am Hohen Knochen an.


Altehrwürdiges Haus:


Nachdem das Sanitär-Rätsel vom letzten Mal wohl zu schwer war, diesmal Einsteiger-Level:


Frage erneut: Wie kommt man an warmes Wasser ?

Abends kommt Manuela nochmal zu Besuch, die hier früher mal gearbeitet hat.

Es wird ein langer Abend und auf dem Zimmer folgt dann noch eine 55 Minuten Alpen-Ausflugs-Beratung für Michl in heimischen Gefilden.

Kurz vor 01:00 komme ich ins Bett.

Was ein Tag...


* Nicht zu verwechseln mit: Kai-sein-Schmarrn


Begegnungen:

- 2 Wanderer, die mir abwärts vom Langenberg entgegen kommen

- 2 Wanderer am Langenberggipfel

- 2 Wanderer, die mir aufwärts zum Langenberg entgegen kommen

- 2 Eichelhäher

- 1 Alpaka-Ziegen-Herde

- 1 Eichhörnchen

- große Herde Schafe + Ziegen

- Manuela (rennschnecke)


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